Führen oder Wachsenlassen – wie erziehen wir richtig?
Erziehung ist also notwendig – aber wie ist sie richtig? Wenn wir Erziehung als die große Aufgabe erkennen, die sie ist, dann wollen wir sie selbstverständlich richtig machen. Wir wollen das Beste für unsere Kinder. Was aber ist das Beste für das Kind? Welches Erziehungsziel verfolgen wir?
Zu was sollen und wollen wir das Kind erziehen? Mit welchen Erziehungsmaßnahmen erreichen wir das Ziel? Und erziehen wir nicht auch, wenn wir nicht erziehen – einfach indem wir mit Kindern zusammen leben? In welchem Maß können wir überhaupt erziehen? Können wir einen perfekten Menschen heranziehen, dadurch, dass wir alles richtig machen? Einen Menschen, der nicht nur perfekt ist, sondern der auch glücklich wird? Ist das Kind unendlich formbar? Wo liegen die Grenzen der Erziehung? Und wo die der Erzieher? Was passiert, wenn wir etwas falsch machen?
Der Erzieher: Bildhauer oder Gärtner?
Welches Bild von Erziehung haben Sie? Es gibt unterschiedliche Auffassungen über Erziehung und darüber, wie Erziehung richtig ist. Auch dabei spielt das zugrunde gelegte
Menschenbild eine große Rolle. Ist das Kind bei seiner Geburt ein unbeschriebenes Blatt? Oder ist bereits alles in ihm angelegt?
Käme das Kind als „unbeschriebenes Blatt“ zur Welt, so wären seiner Formbarkeit durch Erziehung theoretisch keine Grenzen gesetzt. Der Mensch wäre danach ein reines Produkt der auf ihn wirkenden Umwelteinflüsse. Durch Schaffung einer entsprechenden Umwelt und durch gezielte erzieherische Einflussnahme könnte man somit alle gewünschten Eigenschaften, Charakterzüge und Fähigkeiten herausbilden. Der Erzieher wäre in diesem Fall so etwas wie ein Bildhauer, der sein „Rohmaterial“ bearbeitet und nach seinen Wünschen formt.
Die gegenteilige Position geht von der Annahme aus, alles, was das Kind für seine Entwicklung braucht, sei bereits bei der Geburt im Kind angelegt. Hier hat Erziehung die Aufgabe, ein Umfeld zu schaffen, in dem alle Anlagen sich frei entfalten können und gedeihen. Umständen und Faktoren, die das Wachstum stören oder es hemmen könnten, muss entgegen gewirkt werden. In diesem Fall übernimmt der Erzieher eher die Aufgabe eines Gärtners: Er pflegt und gießt sein Pflänzchen, jätet das Unkraut, schützt es vor Krankheiten und freut sich am guten Wuchs und der schönen Blüte.
Je nachdem also, ob man dem Gärtnermodell oder dem Bildhauermodell und ihren zu Grunde liegenden Menschenbildern anhängt, wird man die Aufgaben der Erziehung
unterschiedlich sehen und gewichten. Reine Modelle werden von der Wissenschaft als Denkmodelle geschaffen. Sie dienen unter anderem immer auch dazu Positionen zu beziehen und finden sich selten in Reinkultur in der Praxis wieder. Wie so oft liegt für die Erziehungspraxis auch beim „Bildhauer- und Gärtnermodell“ die Wahrheit in der Mitte.
Erziehung muss immer beides sein: Führen und Wachsenlassen. Sie muss Freiheit zur individuellen Entfaltung gewähren und Grenzen zur Orientierung setzen. Um im Bild zu
bleiben: Auch der Gärtner beschneidet seine Pflanze, um ihren Wildwuchs einzudämmen. Er veredelt seinen Obstbaum, um schmackhaftere Äpfel zu ernten oder widerstandsfähigere hervorzubringen. Und selbstverständlich kann auch der Bildhauer sein Material nicht willkürlich formen. Er muss in jedem Fall die Beschaffenheit seines Materials berücksichtigen. Ob er mit Sandstein arbeitet oder mit Granit, bestimmt die Wahl seiner Werkzeuge und das Ergebnis.
Anders als beim Gärtnern und Bildhauern haben wir es bei der Kindererziehung mit menschlichen Individuen zu tun, die wir weder nach unserem Belieben formen können und dürfen, noch einfach nur wachsen lassen sollen. Letzteres wäre „nichts Geringeres als der Rückfall in die Barbarei“ (1), wie der Pädagoge Theodor Litt in seinem Klassiker „Führen oder Wachsenlassen“ feststellt. Ersteres eine Fehleinschätzung der Grenzen von Erziehung und eine Missachtung des Kindes als Mensch.
Der Hamburger Erziehungswissenschaftler Prof. Peter Struck weist in seiner „Kunst der Erziehung“ darauf hin, dass Erziehung den jeweiligen Lebens- und Entwicklungsphasen des Kindes angemessen sein muss. Auch die Aufgaben des Erziehers verändern sich im Lauf dieser Lebens- und Entwicklungsphasen. So braucht das Kind zu Anfang Führung. Diese sollte aber mit zunehmendem Alter zugunsten der Beratung abnehmen. An die Stelle der Erziehung tritt schließlich idealerweise eine mehr und mehr gefestigte Beziehung, die durch gegenseitiges Vertrauen geprägt ist.
„Kinder gehören uns nicht, wir dürfen sie nur ein Stück ihres Lebens begleiten. Wir erziehen sie, wenn sie noch klein sind; dann geht die Erziehung immer mehr in Beratung über, weil Überzeugung besser ist als Dressur oder Zwang. Schließlich lösen die jungen Menschen sich äußerlich von uns ab, bleiben aber hoffentlich innerlich für immer mit uns verbunden. Erziehung ist ein recht gewaltsamer Begriff, wie auch derjenige der Führung. Wir ziehen nur in dem Sinne an einem Kind herum, wir ziehen es nur insofern hoch, als dass wir seine Sinne und Kräfte in seine Zukunft und in die weite Welt hinaus herausfordern, denn wir dürfen es weder über- noch unterfordern, wenn wir es richtig machen wollen. … (2)
„Jede Erziehung dient dem Zweck, dass sich der Erzieher nach und nach überflüssig macht. Der Weg geht immer von der Fremderziehung über die Beziehung zur Selbsterziehung.“ (3)
(1) Theodor Litt: Führen oder Wachsenlassen, Ernst Klett Verlag,
Stuttgart, 13. Aufl. 1967, S. 65
(2,3) Peter Struck: Die Kunst der Erziehung, WBV, 1996
Nie zuvor war die Verunsicherung über Erziehung größer als heute. Gerade weil wir alles richtig machen wollen, sind wir orientierungsloser denn je.
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