Der Mensch – eine physiologische Frühgeburt

Eine biologische Tatsache ist: Der Mensch kommt nackt und hilflos auf die Welt. Würde man ihn sich selbst überlassen, wäre dies nicht nur das Todesurteil für ein einzelnes vernachlässigtes Kind, sondern für die gesamte Menschheit.

Die Hilflosigkeit bei der Geburt gilt zwar genauso für viele höher entwickelte Tiere, so genannte Nesthocker – ohne dass man deswegen von der Notwendigkeit einer Erziehung sprechen würde. Im Unterschied zu den Tieren jedoch, dauert beim Menschen diese Phase der absoluten Angewiesenheit auf seine Artgenossen – in herkömmlichen Familienstrukturen sind dies die Eltern – extrem lange. Biologisch gesehen spricht man nach Adolf Portmann deshalb vom Menschen als physiologischer Frühgeburt.

Das bedeutet: Ein Neugeborenes kommt völlig unfertig auf die Welt, sehr viel unfertiger als jedes Tier. Nicht einmal die embryonale Entwicklung ist bei der Geburt vollständig abgeschlossen. Dazu bedürfte es einer Schwangerschaft von 21 Monaten. Alles, was das Kind zum selbstständigen Überleben braucht, entwickelt sich erst innerhalb von Jahren durch Reifung und Lernen – außerhalb des Mutterleibes. Die arttypischen Eigenschaften und Verhaltensweisen, die den Menschen bestimmen, wie aufrechter Gang, Sprache, einsichtiges Denken und vernunftgeprägtes Handeln sind zwar angelegt, aber bei der Geburt nicht ausgebildet. Sie entwickeln sich im Lauf einer für Lebewesen einzigartig langen Zeit.

Dieser Entwicklungsprozess findet nicht isoliert statt, sondern ist von Anfang an eingebettet in die soziale und kulturelle Umgebung des Kindes. Als physiologische Frühgeburt ist der Mensch angewiesen auf soziale Kontakte und offen für die Einflüsse der Umwelt. Diese Offenheit wiederum ist die Voraussetzung für Lernen.

Der Mensch – Mängelwesen oder Universalgenie?

Nach dem Anthropologen Arnold Gehlen ist der Mensch ein unspezialisiertes biologisches Mängelwesen und deshalb auf Erziehung angewiesen. Das bedeutet: Im Vergleich zu manchem Tier verfügt der Mensch über relativ schlecht entwickelte Sinnesorgane: Seine Augen sind weniger scharf als die eines Adlers, der Geruchssinn weniger ausgeprägt als der eines Hundes.

Und im Gegensatz zum Tier besitzt der Mensch kaum noch Instinkte, die sein Überleben sichern könnten. Der Saug- und Greifreflex des Neugeborenen, aber auch das erste Lächeln sind Beispiele für solche rudimentären Restinstinkte. Selbst lebenserhaltende Antriebskräfte wie Nahrungsbeschaffung und Sexualität sind beim Menschen nicht rein instinktgesteuert, sondern kulturell und sozial geformt.

Die Erziehungsbedürftigkeit des Menschen ergibt sich also zwingend aus seiner mangelhaften natürlichen Ausstattung, die durch Erziehung und Erlernen bestimmter Techniken ausgeglichen werden muss. Nun mag das so klingen, als sei der Mensch von
Natur aus eine Fehlkonstruktion. Wenn nicht ein kleines Wörtchen eine große Bedeutung hätte. Der Mensch ist ein unspezialisiertes biologisches Mängelwesen.

Gerade in dieser Unspezialisiertheit liegt die große Chance des Menschen. Sie erst begründet nicht nur die Bedürftigkeit, sondern auch die Erziehungsfähigkeit des Menschen. Die hohe Entwicklung des Großhirns und der Großhirnrinde ermöglichen Lernen in viel stärkerem Maß, als es jedem Tier möglich ist. So gesehen ist der hilflose Säugling kein Mängelwesen sondern ein Universalgenie. Die unspezifische Ausstattung ermöglicht durch Lernen die Anpassung an sehr unterschiedliche Lebenserfordernisse und –umstände. Der Mensch ist im Gegensatz zum Tier nicht an einen bestimmten Lebensraum gebunden, sondern ein weltoffenes Wesen. Er kann sich an die verschiedensten Lebensräume anpassen und sich diese sogar mit Hilfe seiner Intelligenz selbst passend machen und – begrenzt – erschaffen. Nehmen wir nur die Erfindung des Feuers oder der Zentralheizung. Beide ermöglichen es dem Menschen auch in einem Klima lebensfeindlicher Kälte zu überleben. Während der Mensch sowohl in der Arktis als auch in der Wüste überleben kann, würde man einem Pinguin in der Wüste keine großen Überlebenschancen ausrechnen.

Der Mensch ist ein weltoffenes Wesen. Er verfügt über ein unvergleichlich höheres Maß an Formbarkeit und Flexibilität als das Tier – und das ist kein Mangel, sondern sein Vorteil. Er  ist biologisch wenig determiniert und deshalb zu Vielem fähig. So kann der Mensch zwar nicht von Natur aus fliegen wie jeder Vogel – aber er kann Flugzeuge erfinden. Er kann nicht unter Wasser atmen wie ein Fisch – aber er kann U-Boote konstruieren. Er hat nicht die Kraft eines Bären – und trotzdem kann er den Bären mit Hilfe von Waffen erlegen.

Der Mensch ist ein soziales, kulturelles und geistiges Wesen – von Anfang an

Von der Stunde seiner Geburt an ist der Säugling angewiesen auf seine Eltern oder andere erwachsene Artgenossen. Von Anfang an besteht eine soziale Gemeinschaft, ein Miteinander. Der Mensch ist also ein soziales Wesen – von Anfang an.  Als unfertiger Mensch – physiologische Frühgeburt – wird das Kind in eine Welt hineingeboren, in der Werte und Normen das Zusammenleben bestimmen. Man kann dies Kultur nennen, Gesellschaft oder auch alles umfassend als „Umwelt“ bezeichnen.

Erst diese Umwelt ermöglicht und bestimmt die Entwicklung des Kindes. Die Inhalte einer Kultur, die Werte und Normen einer Gesellschaft und die Verhaltensweisen als soziales Wesen sind nicht genetisch festgelegt. Sie werden gelernt und müssen gelernt werden, soll das Leben gelingen. Das bedeutet nicht, dass sämtliche Werte und Normen unhinterfragt übernommen werden. Es bedeutet aber, dass diese ganz untrennbar Teil der Umwelt sind, in die der kleine Mensch hineinwächst, in der er sich orientieren muss, in der er seine arttypischen Merkmale ausprägt und seine Individualität entwickeln wird.

Im Gegensatz zum Tier verfügt der Mensch über ein Bewusstsein von Vergangenheit, Gegenwart, Zukunft und über ein Bewusstsein seiner selbst. Er ist also auch ein geschichtliches und geistiges Wesen. Auch dies sind  arttypische Merkmale, die nicht von Anfang an ausgeprägt sind. Sie bilden sich ebenfalls erst im Lauf des menschlichen Entwicklungsprozesses heraus.

Ein Beispiel: Das Bewusstsein seiner Selbst erwacht beim Kind erst im zweiten bis dritten Lebensjahr mit dem Wörtchen „Ich“. Erst zu diesem Zeitpunkt erlebt das Kind sich als eigenständige Person mit einem eigenen Willen. Es ist sozusagen eine zweite Geburt. Für jeden, der mit der Erziehung eines Kindes betraut ist, ist es wichtig, wenigstens über elementare Kenntnisse der kindlichen Entwicklung zu verfügen. Um beim Beispiel des erwachenden Selbstbewusstseins zu bleiben: Wer diese entwicklungspsychologische Tatsache und ihre Bedeutung kennt, wird die damit einhergehende „Trotzphase“ ganz anders bewerten. Diese Phase ist nicht dazu da, Eltern und Erzieher zu ärgern oder ihnen das Leben schwer zu machen. Es ist vielmehr die erste Loslösungsphase, in der sich das Kind nicht mehr als Einheit mit der Mutter erlebt. Sie bedeutet im Leben des Kindes Verlust und Zugewinn zugleich. Das Kind muss seine neue Unabhängigkeit üben, erproben und ausbauen dürfen. Es muss dabei selbstverständlich auch lernen und erfahren, wo seine neuen Grenzen liegen.

Erziehungsbedürftigkeit: Darum ist Erziehung notwendig!

Seine Instinktarmut, seine unspezialisierte körperliche Beschaffenheit und die extrem lang dauernde Periode der Hilflosigkeit nach der Geburt machen den Menschen zu einem „erziehungsbedürftigen Wesen“. Die spezifisch menschlichen Verhaltensweisen entwickeln sich nicht isoliert, sondern erst unter dem Einfluss der mitmenschlichen Umwelt.

Aufgrund seiner hoch entwickelten Hirnstruktur ist der Mensch extrem lernfähig. Nur seine Lernfähigkeit sichert sein Überleben. Doch selbst die Entfaltung der Hirnfunktionen bedürfen der Anregungen von außen. Auch die sozialen Verhaltensweisen wie z. B. Bindungsfähigkeit entwickeln sich nur in der Wechselwirkung zwischen Kind und Umwelt. Die vollständige Entfaltung der körperlichen, sozialen, kulturellen und geistigen Fähigkeiten geschieht durch Reifen und durch Lernen im weitesten Sinn. Der Mensch ist von Anfang an in eine soziale Situation und Kultur eingebettet. Nur durch das Miteinander kann er seine menschlichen Fähigkeiten entwickeln und entfalten.   

Was bedeutet das für die Erziehung?

Ob wir es wollen oder nicht, ob wir es bewusst tun oder unbewusst – wir müssen also erziehen und wir tun es auch. Sowohl durch zielgerichtete bewusste Einwirkung auf das Kind als auch durch die Umwelteinflüsse, die der kleine, heranwachsende Mensch vorfindet und denen er ausgesetzt ist.

Erziehung ist notwendig und muss dem Kind in allen Aspekten seines Wesens Hilfe bieten:

  • Bei der Entfaltung seines biologischen Wesens:
    Sinne, körperlichen Fähigkeiten …
  • Bei der Entwicklung zum Vernunftwesen:
    Intellekt, Sprache, Denken, einsichtiges Handeln, Erlernen von Kulturtechniken wie Lesen und Schreiben …
  • Bei der Entwicklung seines sozialen Wesens:
    Bindungsfähigkeit, Verantwortungsbewusstsein, Bedürfnisaufschub, soziale Spielregeln …
  • Bei der Entwicklung als geschichtliches und kulturelles Wesen:
    Erlernen der kulturellen Inhalte einschließlich Moralvorstellungen, Wert- und Normenverständnis und Kritikfähigkeit …
  • Bei der Entwicklung als geistiges Wesen:
    Auseinandersetzung mit Fragen um die eigene Existenz …

Was wird aus uns? Bestimmen die Gene oder entscheidet die Umwelt?

Was bestimmt die kindliche Entwicklung? Sind es die Gene oder die Umwelteinflüsse, die dominieren? Je nachdem, wie wir diese Frage beantworten, ergeben sich für Erziehung und für die Bildungspolitik unterschiedliche Konsequenzen. Geht man davon aus, dass die Gene die entscheidende Rolle bei der Entwicklung des Kindes spielen, so hat Erziehung als Anregung und Förderung hauptsächlich unterstützende Funktion.

Ihre Aufgabe ist es dann, die angelegten Talente, Fähigkeiten und Charaktereigenschaften wachsen zu lassen. Zu der Sicht der Anlagetheoretiker passt das Bild des Erziehers als Gärtner (siehe: Führen oder Wachsenlassen).

Wenn aber nicht die Gene, sondern die Umwelteinflüsse entscheidend für die kindliche Entwicklung sind, stellt sich die Aufgabe von Erziehung anders dar: Aus Sicht der Umwelttheoretiker sind Talente und Fähigkeiten nicht naturgegeben, sondern Ergebnis der Umwelteinflüsse und Bedingungen unter denen das Kind aufwächst. Erziehung muss dann – unabhängig von naturgegebenen Talenten und Fähigkeiten – jedem Kind optimale Bedingungen für seine Entwicklung bieten.

Die Extrempositionen von Anlage- und Mileutheorieanhängern wurden und werden immer wieder gerne genutzt um bildungspolitische Gefechte auszutragen. Während die Mileutheoretiker Chancengleichheit und „Bildung für alle“ fordern, tendieren die Anlage-Theoretiker eher zur Förderung und Herausbildung von Eliten. Die Umwelttheoretiker vernachlässigen dabei häufig die Tatsache, dass dem Individuum durch seine Gene tatsächlich Grenzen gesetzt sind –  die Anlagetheoretiker hingegen unterschätzen die Bedeutung der sozialen und materiellen Unterschiede für die Entwicklungschancen des Menschen und den Einfluss einer fördernden und anregenden Umwelt.
Beide Extrempositionen und die sich jeweils daraus ableitenden pädagogischen und bildungspolitischen Schlussfolgerungen sind nach dem heutigen Stand der Forschung nicht haltbar.

Zu 100 % bestimmen die Gene – und zu 100 % die Umwelt!

Wie aber findet man heraus welche Fähigkeiten und Eigenschaften zu wie viel Prozent  auf Vererbung oder Umwelteinflüssen beruhen? Ein Nachweis für die eine oder die andere These ist schwierig zu erbringen. Eine Methode ist die Zwillingsforschung. Eineiige Zwillinge sind genetisch völlig identisch. Man untersuchte Zwillinge, die direkt nach der Geburt durch äußere Umstände getrennt wurden und in verschiedenen Familien aufwuchsen. Da die Zwillinge unterschiedlichen Umwelteinflüssen ausgesetzt waren, mussten die Ähnlichkeiten, die sie aufwiesen genetisch bedingt sein. Es fanden sich auch viele Ähnlichkeiten, aber keinerlei Hinweise darauf, dass wichtige Persönlichkeitseigenschaften genetisch bedingt seien.

Auch die Untersuchungen von Adoptivkindern sollten Aufschluss darüber geben, welchen Anteil Gene und Umwelt an der Persönlichkeitsentwicklung haben. Bei Kindern, die nicht bei ihren leiblichen Eltern aufwuchsen, fand man heraus, dass sich die Persönlichkeit der Kinder im Lauf der Jahre immer mehr an die ihrer Adoptiveltern angleicht. Der Intelligenzquotient allerdings ähnelte im Erwachsenenalter eher dem der leiblichen Eltern. Dies legt die Schlussfolgerung nahe, dass Intelligenz zu einem größeren Teil vererbt wird.

Unbestritten ist, dass sowohl Anlage als auch Umwelt wesentliche Einflussfaktoren sind. Da vom ersten Augenblick der Geburt eines Menschen beide gleichzeitig wirken, ist der Nachweis, zu wie viel Prozent die Gene oder die Umwelt bei der Ausbildung von Persönlichkeitsmerkmalen beteiligt sind, nicht zu erbringen. Etwas überspitzt lässt sich also sagen: Wir werden zu 100 % von unseren Genen bestimmt und zu 100 % von der Umwelt.

„Es ist wichtig zu wissen, dass eine solche Frage (nach den jeweiligen Anteilen von Genen und Umwelt, d. V.) prinzipiell nicht beantwortet werden kann, weil sich eine individuelle Merkmalsausprägung immer aus dem Zusammenwirken von Anlage und Umwelt ergibt, deren Beiträge zu dem Endprodukt nicht quantifiziert werden können (K. J. Klauer, 2001 Anlage und Umwelt. In D.H. Rost (Hrsg.), Handwörterbuch Pädagogische Psychologie, Psychologie Verlags Union, Weinheim ). …

Aus der Bedeutung, die Anlage und Umwelt beim Zustandekommen von Persönlichkeitsunterschieden bei einem bestimmten Persönlichkeitsmerkmal haben, lassen sich keine unmittelbaren pädagogischen und bildungspolitischen Schlussfolgerungen ableiten.

Unangemessen sind pessimistische pädagogische Schlussfolgerungen auch, wenn sie auf der Annahme beruhen, "genetisch bedingt" sei gleich bedeutend mit "nicht veränderbar". Diese Annahme ist ein Missverständnis. … Persönlichkeitsmerkmale eines Menschen (wie z. B. die Intelligenzausstattung) sind (auch dann, wenn sie genetisch beeinflusst sind) in ihrer Entwicklung nicht vollständig determiniert, sondern können durch geeignete pädagogische Fördermaßnahmen verändert werden.

Die Veränderbarkeit von Persönlichkeitsmerkmalen hat allerdings ihre Grenzen. Die genetische Ausstattung legt eine Bandbreite des Entwicklungsspielraumes fest, die nicht beliebig überschritten werden kann. … So können noch so vielfältige Fördermaßnahmen letztlich nicht bewirken, dass aus schwach begabten Kindern hoch begabte Kinder werden. …  Welche allgemeine Empfehlung lässt sich nun vor dem Hintergrund der Anlage-Umwelt-Forschung für die Erziehung geben?

Pädagogische Maßnahmen zur Förderung von Kindern sind sinnvoll — überzogene Erwartungen sind es nicht!“ (1)

(1) Gerhard Büttner: Anlage und Umwelt – ihre Bedeutung für die kindliche Entwicklung zitiert nach www.online-familienhandbuch.de

 

Kindererziehung

Nie zuvor war die Verunsicherung über Erziehung größer als heute. Gerade weil wir alles richtig machen wollen, sind wir orientierungsloser denn je.

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